Die Langeweile und der Krieg

— Walter Serner —


Die Welt ist langweilig. Die Tatsache ist ebenso unbestreitbar wie ungenügend verbreitet.

Als das erste Gehirn auf den Globus geriet, erstaunte es über seine Anwesenheit und wusste mit sich und der Welt nichts anzufangen. Inzwischen hat man sich an das Gehirn gewöhnt, indem man es ignoriert, aus sich einen Geschäftemacher gemacht und aus der Welt ein Theater. Dieser immerhin nicht sonderlich heroische Ausweg aus einem sehr unterschätzten Dilemma ist gleichwohl nicht uninteressant und vollends unabsehbar. Denn nachweisbar fällt es manchem kräftigen Lokomotivführer jährlich wenigstens einmal ein, dass seine Beziehungen zur Lokomotive durchaus nicht zwingend sind und dass er von seiner Ehefrau nicht viel mehr weiss als nach jener warmen Nacht im Stadtpark. Und manch einer, der sich mehrfach sein Leben und Hab und Gut versichern lässt, bekommt im Bett eine Gänsehaut, wenn ihn ein böser Traum rüttelt und daran erinnert, dass er im Grunde nicht weiss, wofür er wuchert. Und kommt es besonders intensiv, so ist dem Menschen verteufelt unklar, warum er gerade jetzt im Zimmer steht und raucht, in ein Schaufenster glotzt und schnuppert, sich reden hört und die Lippen kräuselt, im Zirkus sitzt und einen Clown belacht. In diesen harmlosen Fällen ist die Möglichkeit, dass das penetrante Gefühl der Langeweile zu einem Gedanken über ihre Ursache sich erhebt, am grössten. Solch ein Augenblick gebiert den Desperado, der als Prophet, Hochstapler, Künstler, Anarchist oder Staatsmann Unfug treibt.

Der jeweilige Zustand der bewohnten Erdoberfläche ist also lediglich das folgerichtige Ergebnis einer unerträglich gewordenen Langeweile. Die beliebte Unterscheidung zwischen Kultur und Zivilisation bricht sich in dieser Perspektive an der Grösse des Bedürfnisses, sich zu betäuben. Nur von diesem Ende aus ist es zu verstehen, dass Millionen Menschen dem Wink Einzelner, einander totzuschlagen, demütig, willig, oft sogar begeistert gehorchen. Sie wissen im Grunde eben nicht, wozu sie eigentlich da sind, was war und werden soll. Sie ahnen vielleicht dumpf, dass die Regisseure ihres Schlachtfeldtodes dieses Schauspiel ja nur inszenieren, weil auch sie mit sich nichts anzufangen wissen und lediglich die grössere Kraft mitbekamen, die Langeweile erfolgreicher und ausgiebiger sich zu vertreiben.

Hier wird es hell. Einer, der im Erleben der Sinnlosigkeit des Daseins die positive Geschäftigkeit der Dumpfen als Anregung verwendet, steht auf und propheteit ein Gott-System mit subjektiv-ehrlichen Erlöserabsichten, indem er dem jederzeit suggestiv aufzureizenden Gehirn ein Dogma einredet, das er selber anbetet, um die verzweifelte Qual der eigenen Langeweile verstummen zu machen. Ein anderer schreibt bloss ein dickes Buch über die letzten Dinge, die er nun nur noch empörender in ihrer Unlösbarkeit erkennt, oder wird, wenn es ihn ganz rabiat macht, Anarchist und Propagandeur der irrsinnigen Tat. Wieder einer eisenbahnkutschiert über den Kontinent, ist je nach dem Erfordernis Graf oder Einbrecher, Schieber oder Diplomat, Hazardeur oder Heiratsschwindler, Kuppler oder Regierungsrat, da allein diese vielseitige Tätigkeit sein ganz enormes Zerstreeungsbedürfnis befriedigt: ist er sehr begabt, so wird er Kaiser, und einmal im Besitz der Gewalt erhebt er sie flugs zum Axiom und glaubt nach einer Viertelstunde selbst daran, denn es ist befreiend und angenehm-abwechslungsreich; wird er schwächer geboren, so wird er Staatsmann und organisiert nun diesen ganzen Welttheaterbetrieb, den er durchschaut, wie etwa derjenige mit Vorliebe Voyeur ist und Casanova abschreibt, der es diesem Liebespapst nur im kleinsten Bruch nachtun kann. Viel gefährlicher und auch unsympathischer als alle, die auf der Flucht vor der Langeweile zur verzweifelten Tat übergehen, ist also der tatenschwache übellaunige, der Langeweile am bittersten ausgelieferte Staatsmann, der unter dem Vorwand, diese ihn kränkenden Taten zu verhindern, sie seinem Herrn frisch und flott arrangiert. Dabei vergisst er nicht, sich seiner von ihm beneideten Gesinnungsgenossen zu bedienen: er stellt den Hochstapler auf Gesandtschaftsposten und lässt ihn mit Hohn, aber doch auch mit geheimer Bewunderung bestrafen, wenn er ihn ohne Anstellung schieben sieht; er zapft den Künstler in Lesebücher ab, unterschlägt den Anarchismus, der um jedes echte Kunstwerk dampft, und präpariert die Köpfe der Jugend vollends zum langeweilefortheuchelnden Positivismus, indem er der Kirche auf die Schulter klopft, wenn sie Jesus zum Katechismus umlügt, und die Pressehallunken mit Checks ermuntert, den Geschäftemachern das Geschäftemachen zu erleichtern, um alle ganz in der Tasche zu haben; und er sperrt den Dieb ein und köpft den Mörder, da es nicht angeht, sporadisch zu gestatten, worauf en masse der ganze Schwindel angelegt ist.

Und siehe: Gestank kommt in die Welt und wird immer dicker. Alles wird selbstverständlich. Man lügt, betrügt, sauft, schläft bei, betet, ist je nach dem Erfordernis Diplomat oder Regierungsrat, Sänger oder Soldat und ähnliches, da allein diese vielseitige Tätigkeiten einem sein ganz enormes Zerstreuungsbedürfnis befriedigen können.

Aber das geschickt versteckte Gespenst der Langeweile steht weiss hinter allem und fängt sich endlich mit einem kurzen Griff die ganze Bande. Der Staatsmann klingelt, der Vorhang geht auf: Krieg! Die Menschen in den Städten rennen durcheinander, erschreckt, kopflos, verwirrt. Wo ist ein Halt? Ein Feststehendes? Ein Punkt? Ein Zweck? Ein Ende? Aber das Arrangement ist gut: die Zeitungen schreien Hurrah und telephonieren mit dem Ministerium wegen der Motivierungsphraseologie; Musik zieht auf und ersäuft jede Änderung; grosse Reden werden auskalkuliert, historisch-wertvoll gefeilt und in die nun berauschte Menge geträufelt; Hochämter inseriert und der liebe Gott wird persönlich bemüht, das Schlachten zu protegieren. Und alsbald, nach dieser tiefangelegten Reklame, platzen die ersten Granaten. Der Staatsmann in seiner Loge hat nun sein Spektakel, die Menschheit einen grausigen Zeitvertreib, und der grosse Tod, der Hunderttausende erlöst, verneigt sich vor der Langeweile, die schon nach dem ersten Akt Zuschauer und Akteure wieder befällt.

Ja, die Welt ist langweilig. Der Zeitpunkt, diese unbestreitbare Tatsache sich ganz zu eigen zu machen, ist günstig. Ich erhoffe mir von ihrer allgemeinen Verbreitung die wirksamste Bekämpfung der Langeweile.


Aus: Der Mistral. Zeitschrift für Literatur und Kunst — Zürich, den 26. April 1915
Hier zitiert nach: https://revolutionsverlag.noblogs.org/post/2022/08/04/die-langeweile-und-der-krieg/
Weitere Texte unter: https://revolutionsverlag.noblogs.org/krieg/







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Aktualisiert 30.04.2023